Architektur trifft auf Gaming: Eine Stadt wächst — digital!

Text: Agata „Shcoobz“ Boeckmann
Fotos: Alps BTE

Es mag zunächst kurios klingen: Ein Team von Gamern baut Wien in einem Computerspiel nach. Block für Block entsteht hier eine realitätsnahe digitale Kopie, vom Stephansdom bis zum Volkstheater. Doch was steckt hinter diesem ambitionierten Projekt?

Das Werkzeug dafür ist Minecraft. Für die Meisten ist es oft nur „das Spiel mit den Blöcken“. Sie kennen es von den eigenen Kindern, von Nichten und Neffen, oder haben die charakteristischen pixeligen Bilder auf T-Shirts und Schulrucksäcken gesehen. In seiner simpelsten Form lässt sich Minecraft als digitales Lego beschreiben: dabei setzen Spieler*innen würfelförmige Blöcke in einer dreidimensionalen Welt und erschaffen so beliebige Strukturen. Dieses scheinbar simple Prinzip hat sich als erstaunlich vielseitig erwiesen.

Mit über 300 Millionen verkauften Exemplaren ist Minecraft das meistverkaufte Videospiel aller Zeiten. Das von Markus „Notch“ Persson 2011 entwickelte Spiel hat sich dabei längst von einem reinen Unterhaltungsmedium zu einer kreativen Plattform entwickelt, das heute für die unterschiedlichsten Projekte eingesetzt wird.

Eines dieser Projekte ist das Alps Build The Earth (Alps BTE) Projekt. Es ist Teil einer globalen Initiative, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die gesamte Erde im Maßstab 1:1 nachzubauen. 

Das Team von Alps BTE konzentriert sich dabei auf Österreich, die Schweiz und Liechtenstein. Seit dem Start während der Corona-Pandemie haben sich über 560 „Builder“ (wie die digitalen Baumeister*innen genannt werden) dem Projekt angeschlossen. Die Herangehensweise ist dabei überraschend professionell und komplexer, als man auf den ersten Blick meinen könnte. 

„Die Blöcke sind jeweils einen Meter groß“, erklärt mir Nikola, Manager bei Alps BTW, bei unserem Rundgang durch sein virtuelles Wien. Was zunächst wie eine Einschränkung klingt, macht aber gerade den besonderen Reiz aus: Wie übersetzt man die geschwungenen Linien eines Jugendstilgebäudes in rechtwinklige Klötze? 

Wie detailgetreu lässt sich eine Fassade nachbilden, wenn jeder Block exakt einen Kubikmeter groß ist? 

Das Team nutzt verschiedene Kartendienste und Höhendaten, um die exakte Position und Höhe jedes Gebäudes zu bestimmen. Ein eigens entwickeltes System ermöglicht es den „Buildern“, sich auf den Zentimeter genau an reale Koordinaten zu teleportieren – eine technische Notwendigkeit für die originalgetreue Nachbildung der Städte. 

Ein Paradebeispiel ist das Wiener Volkstheater, das „Mil Craft Blue“ in nur zwei Wochen Block für Block rekonstruiert hat. Von den markanten Grundzügen bis zu den filigranen Fassadenelementen entstand so eine digitale Version, die dem Original in bemerkenswerter Präzision folgt.

Doch warum investieren Menschen hunderte Stunden in solch ein Projekt? 

Natürlich spielt die reine Freude am kreativen Bauen eine wichtige Rolle, aber es geht um mehr als nur Unterhaltung. Das intensive Auseinandersetzen mit der Architektur führt zu überraschenden Lerneffekten. So beschreibt Nikola, wie ihm das digitale Nachbauen half, sich in Graz zurechtzufinden, obwohl er die Stadt zuvor kaum kannte. Bereits nach dem zweiten Besuch konnte er sich dank seiner Arbeit im virtuellen Raum mühelos in der Grazer Innenstadt zurechtfinden.

Was das Alps BTE Projekt besonders macht, ist seine offene Struktur. Jeder kann mitmachen – es braucht nur eine Bewerbung und etwas Einarbeitungszeit. Der Bewerbungsprozess für neue „Builder“ ist dabei bewusst mehrstufig angelegt. Dies dient nicht nur der Qualitätssicherung, sondern schützt auch vor mutwilliger Zerstörung der bereits erstellten Bauwerke. Neue Mitglieder durchlaufen zunächst ein Tutorial (ein interaktiver Einführungsprozess) unter der Anleitung von „Bob“, einem digitalen Mentor (ein sogenannter „NPC“ oder „Non-Player Character“). Anschließend erstellen sie ein Testgebäude, das mehrfach überarbeitet werden kann, bis es den hohen Qualitätsstandards entspricht. Dann entstehen die Bauvorhaben dort, wo das Interesse der Bauenden liegt. Anders als bei traditionellen Architekturprojekten gibt es keine vorgeschriebenen Bauzonen oder strikte Zeitpläne. Einige Baumeister*innen spezialisieren sich auf Kirchen, andere bevorzugen Einfamilienhäuser oder Flughäfen und manche widmen sich sogar gänzlich dem detailgetreuen Nachbau von Autobahnen.

Dabei finanziert sich das Projekt ausschließlich über Spenden und wird komplett ehrenamtlich betrieben. Die Kosten für Server und Infrastruktur werden transparent dokumentiert und jährlich in einem Finanzbericht offengelegt.

Von der Grätzlgestaltung über den Bildungsbereich bis zur Kulturvermittlung: Die Einsatzbereiche des Spiels gehen weit über den Zeitvertreib im Kinderzimmer hinaus.

Auch die UNO hat das Spiel bereits für sich entdeckt und es in der Vergangenheit für Projekte in der Stadtentwicklung eingesetzt. So wurden in Stadtvierteln Computer aufgestellt und die Bewohner konnten ihre Ideen für die Umgestaltung ihrer Nachbarschaft direkt im Spiel umsetzen. Es entstanden zwischen 50 und 150 verschiedene Versionen eines Stadtviertels –  diese Vielfalt an Entwürfen half den Stadtplanern, die Bedürfnisse und Wünsche der Bewohner besser zu verstehen.

Microsoft hat das enorme Potenzial des Spiels erkannt und bietet mit „Minecraft: Education Edition“ sogar eine speziell für den Unterricht entwickelte Version an. Diese wird weltweit in Klassenzimmern eingesetzt, von der Volksschule bis hin zur Universität. Die Bandbreite der Projekte ist beeindruckend:

In Neuseeland etwa wurde mit „Ngā Motu“ eine komplette Minecraft-Welt erschaffen, in der Schüler*innen die Sprache und Kultur der Māori erkunden können. In dieser digitalen Umgebung entdecken sie traditionelle Siedlungen, lernen die Māori-Sprache und erfahren mehr über die Geschichte der indigenen Bevölkerung Neuseelands.

Beim „Island Innovation Project“ entwerfen und bauen Schüler*innen künstliche Inseln nach dem Vorbild Dubais. Dabei lernen sie nicht nur geografische und technische Aspekte der Landgewinnung kennen, sondern setzen sich auch mit nachhaltiger Stadtentwicklung auseinander. In Gruppenarbeit planen sie die Infrastruktur ihrer Inseln und entwickeln innovative Lösungen für die Herausforderungen moderner Stadtplanung. 

Dieses Projekt verbindet Geografie, Technik und kreatives Denken und zeigt, wie Minecraft als Werkzeug für komplexe Planungsaufgaben genutzt werden kann.

Im „Music Coding Project“ lernen Schüler*innen das Programmieren mit Redstone – einem speziellen Material in Minecraft, das wie eine Art digitaler Schaltkreis funktioniert. Mit Redstone können Spieler*innen logische Schaltungen bauen, ähnlich wie mit echter Elektronik. 

In diesem Musikprojekt nutzen die Schüler*innen diese „Minecraft-Elektronik“, um musikalische Loops zu programmieren – sich wiederholende Sequenzen, die in der Musik genauso wichtig sind wie in der Programmierung. Diese Verbindung von Elektronik, Musik und Programmierung macht abstrakte Konzepte greifbar: Wenn Schüler*innen einen Redstone-Schaltkreis bauen, der einen bestimmten Rhythmus erzeugt, verstehen sie gleichzeitig grundlegende Konzepte der Elektronik und der Musiktheorie. Es ist, als würden sie gleichzeitig eine kleine elektronische Schaltung und ein Musikstück komponieren.

Ein weiteres faszinierendes Beispiel ist das „Science in Minecraft“-Projekt. Hier werden die Naturgesetze der Minecraft-Welt mit der realen Wissenschaft verglichen. 

Die Schüler*innen untersuchen, wie Chemie, Biologie und Physik sich in Minecraft von der Realität unterscheiden – und lernen dabei beide Welten besser verstehen. Dieser Vergleich regt nicht nur zum kritischen Denken an, sondern macht auch deutlich, wie Computerspiele die Realität vereinfacht darstellen. Die Schüler*innen lernen dabei, wissenschaftliche Konzepte zu hinterfragen und Modelle kritisch zu bewerten.

Besonders innovativ ist auch das „STEM Experiments“-Projekt einer australischen Volksschule. Hier nutzen Schüler*innen Minecraft als virtuelles Labor: Sie stellen Hypothesen auf, führen Experimente durch und sammeln Daten. Die Besonderheit liegt in der Programmierung: 

Die Schüler*innen können Experimente so gestalten, dass sie beliebig oft unter exakt gleichen Bedingungen wiederholt werden können – etwas, das in realen Experimenten oft schwierig ist. 

Sie lernen dabei nicht nur wissenschaftliches Arbeiten, sondern auch, wie man Computercode nutzt, um Versuchsbedingungen präzise zu kontrollieren.

Das Alps BTE Projekt unterscheidet sich von diesen Projekten durch seinen Fokus auf präzise Nachbildung bestehender Architektur. „Für Stadtentwicklungsprojekte ist unser Ansatz zu komplex“, räumt Nikola ein. „Man muss sich erst in verschiedene Techniken einarbeiten. Für die spontane Ideenfindung sind einfachere Ansätze besser geeignet.“

Nach fast fünf Jahren Bauzeit ist das Projekt lebendiger denn je. Neue Techniken und Werkzeuge ermöglichen immer detailliertere Nachbauten. Eine geplante Ausstellung in einem Zürcher Museum zeigt, dass das Projekt auch außerhalb der Gaming-Welt auf Interesse stößt. Das Projekt ist dabei mehr als nur ein ambitioniertes Bauvorhaben. Es ist ein einzigartiges Archiv der städtischen Architektur, ein kreatives Gemeinschaftsprojekt und nicht zuletzt eine neue Art, sich mit dem urbanen Raum auseinanderzusetzen. Block für Block entsteht hier nicht nur eine digitale Version von Wien – sondern auch ein neuer Blick auf die Stadt.