Lisa Mundt schreibt die Kolumne "Am Leben geschult". Die Autorin Illustriert ihre Erfahrungen als Lehrerin an einer Ottakringer Mittelschule.

AM LEBEN GESCHULT: von Lisa Mundt

Jeden Dienstag erscheint die Kolumne „Am Leben geschult“ von Lisa Mundt. Auf poetische Weise illustriert die Jungautorin ihre Erfahrungen als Lehrerin an einer Ottakringer Mittelschule.

Dienstag, den 11. Juni 2019

verlorene zeit


er starrt seine schularbeit an.

sein gesicht bebt.

seine finger zittern.

er greift nach der füllfeder.

ein jahr wiederholung wird guttun.

ein jahr wiederholung wird ihm helfen.

er braucht noch mehr zeit.

sein bauch zieht.

seine schläfen stechen.

er blickt aus dem fenster.

seine familie ist aus syrien geflüchtet.

er hat nicht genug zu essen bekommen.

er braucht noch mehr zeit.

er sieht auf den basketballplatz hinunter.

er wird nicht mehr in dieser klasse sitzen.

nächstes jahr wird er auf die straßenseite blicken.

deine freunde werden dich besuchen.

in den pausen werden sie kommen.

ihr werdet zeit finden.

er starrt mit geweiteten augen.

er kann es nicht glauben und weiß es doch.

kaum angekommen.

schon wieder verloren.


Dienstag, den 04. Juni 2019

sommersportwoche


im speisesaal

mit müden augen

das erstickte lachen der nacht

noch in den ohren.

im bus

auf dem weg ins schwimmbad

gummischlangen und schokolade

heimlich ausgetauscht.

im wasser

untertauchen und auf händen stehen

auf rücken klettern mit schlachtrufen

mit den lehrerinnen auf der wasserrutsche

im bus

auf dem weg in die herberge

köpfe aneinander gelehnt

vertrauter chlorgeruch in der nase.

auf den zimmern

duschen und eincremen

badehosen und bikinis in den betten

dröhnende musik und tanzen.

im speisesaal

dreimal nachnehmen

verpasste geschichten einsammeln

gossip und chillen und drama.

der schlaf kommt heute schnell

viel schneller

als gedacht.


Dienstag, den 28. Mai 2019

ramadan II


im speisesaal

sitzt sie

am fenster

und schaut hinaus.

sieht kein essen.

nur bäume.

beim turnen

macht sie pausen

läuft langsam

und leise

mit blick

auf den boden.

kein schweiß

verlässt den körper.

wieso fastest du, tochter?

du bist ein kind.

du musst essen!

sie sieht

ihren eltern

ins gesicht.

gott will es so.

(ich will es so.)

ihre haut

knisternde seide.

ihr kopf

pulsierender strom.

die tage

sind lang

die nächte

so kurz.

ein freund

kaut kaugummi.

ihr dunkler blick:

harām.

er setzt sich weg

ihre fingernägel

graben sich

in ihre weiche haut.

ich frage sie

ob sie nicht doch –

nein

sagt sie

ich will es so.

(ich will es so.)


Dienstag, den 21. Mai 2019r

ramadan I


er sitzt auf der bank

in der sonne

während die anderen

fußballspielen.

er spielt nicht mit

sagt er

weil ramadan ist.

er fastet.

die hitze

steigt in seinen kopf.

er schreit die bank an

weil sie in der sonne steht.

die anderen

lachen.

sie ist plötzlich

erwachsen.

eben war sie noch

ein mädchen

aber jetzt

ist sie eine frau

wie die mutter

wie die schwestern.

sie fastet.

aber das kopftuch

trägt sie nicht.

das hat damit

nichts zu tun

sagt sie.

am liebsten sind ihm

die abende.

wenn seine familie

mit anderen familien

gemeinsam

das fasten brechen.

das essen

sagt er

schmeckt dann

viel besser.

und es ist fast

ein bisschen

wie in syrien.


Dienstag, den 7. Mai 2019

körperzeit


sie sind die letzten

in der umkleidekabine.

sie versprühen duftwolken

aus jasmin und orange.

sie rufen jungennamen

und küssen die luft.

sie schlagen sich gegenseitig

auf oberschenkel und bäuche.

sie lachen.

könnt ihr euch schneller umziehen?

sie lachen.

wollt ihr denn keine pause haben?

sie lachen.

wie viele deos habt ihr, bitte?

sie halten sich die nasen zu und lachen.

m. hat neue schnitte auf dem linken unterarm.

sie verwendet dafür

rasierklingen

oder

eine

nagelschere.

neben

den

schnitten

sind

alte

narben

rote

täler

und

weiße

hügel.

z. hat wieder gewicht verloren.

das

schlüsselbein

wirft

tiefe

schatten

feine

härchen

im gesicht –

es läutet und sie laufen in die klasse, es wird zeit.

es bleibt nie

genug zeit.


Dienstag, den 30. April 2019

barfuß


dem sitznachbarn

die stinkenden füße

unter die nase halten

und finster dreinschauen

(barfuß = rache)

im turnunterricht

keine schuhe tragen

weil die schuhe

keine markenschuhe sind

(barfuß = armut)

in der freistunde

die nägel der freundin lakieren

und an ihren zehen ziehen

ganz ungeniert

(barfuß = liebe)

fußballspielen

die zehen fast gebrochen

wie damals

im auffanglager

(barfuß = erinnerung)

sich weigern

hausschuhe zu tragen

sie im spind verstecken

und vergammeln lassen

(barfuß = widerstand)

beim laufen

im schulhof

bei 31 grad

klatscht hornhaut auf beton

(barfuß = sommer)


Dienstag, den 23. April 2019

keine angst


Bild: Ottakringer Flaneur red.

er weint.

sein erster schultag

und er spricht kein deutsch.

er weint.

die stunde tickt

und kann nicht beginnen.

die anderen kinder

sitzen und

warten und

tuscheln und

stöhnen und

er weint.

der erste flüstert und

umarmt ihn.

der zweite flüstert und

hält sein gesicht.

der dritte lacht und

hält seine schultern.

da lacht auch er

schnappend und verrotzt

laut

ein ton aus dem nirgendwo.

was habt ihr ihm gesagt?

der erste zuckt mit den schultern.

alles okay, jetzt.

ja, aber was

habt

ihr

gesagt?

der zweite sieht den dritten an

der dritte sieht den ersten an.

sie zucken mit den schultern.

keine angst

österreich

ist ein gutes land.

lehrer

schlagen

hier

nicht.


Dienstag, den 16. April 2019

50 minuten


er trägt

turnschuhe,

jogginghose,

kapuzenpulli,

kappe.

sie trägt

turnschuhe,

jogginghose,

kapuzenpulli,

kopftuch.

sie lehnt sich gegen den spind

er lehnt sich gegen ihren körper.

sie schlingt die arme um seine hüften

er beugt sich heran.

seine lippen finden

ihre wangen,

ihre stirn.

sie schließt die augen,

atmet aus.

zwei andere gehen vorbei.

sie boxen ihn.

sie lachen. er lacht zurück.

sie holt sein gesicht

an ihres heran.

ihre lippen

suchen

nach worten.

sie sagt etwas.

er wiederholt.

er wiederholt.

sie wiederholt.

ihre finger greifen

ineinander

und der spind

seufzt auf.

es läutet.

der griff gelöst,

die blicke eingefangen.

aber nur

für fünfzig minuten.


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